Oft verbirgt sich hinter erfolgreichen Auswanderern eine Geschichte, die nicht vom Weg- oder irgendwo Hinwollen erzählt, sondern von dem Wunsch, weiter zu gehen. Und obwohl das Weitergehen immer auch ein Weggehen enthält, beschreibt es doch eine andere, positive Dynamik. Es ist ein beschrittener Weg, auf dem man ab und zu Pause gemacht hat, und den man weiter geht, mit dem nächsten Rastplatz im Auge, doch voller Neugier, was bis dorthin kommt. Es gibt nicht ein „dort“ oder „hier“. Es gibt ein „jetzt“ und ein „vielleicht“ und ein „vorher“.
Und wenn man versucht, einer dieser gelungenen Geschichten zu erzählen, dann wählt man die Worte mit Bedacht. Denn zu schwierig scheint es manchmal zu sein, die feinen Nuancen, die wahre, doch manchmal nicht gut zu hörende Faszination, zu beschreiben. Es ist eine Geschichte, unspektakulär, doch voller Weisheit, wahrhaftiger Lebensfreude und Vertrauen. Eine ohne Dramen, Verzweiflung und Niederlagen. Einfach ein Erfolg.
Die Lebens- und Auswandergeschichte beginnt vor etwas mehr als 35 Jahren in einem kleinen Ort auf dem Land. Ein kleines Mädchen wächst behütet und in Freiheit auf. Die Eltern versuchen, viel zu ermöglichen, jeden Sommer geht es nach Italien, jeden Sommer ein großes Abenteuer. Ich stelle mir ein Kind vor, das voller Vertrauen, Freude und Neugier in diese Welt geht. Dass die Realität manchmal nicht so einfach war, blieb bei den Eltern. Und so großartig diese Welt auch war, für das älter werdende Kind, wurde sie irgendwann zu klein.
Mit Mitte 20 wollte sie weiter. „Ich hatte einfach keine Lust mehr. Wir hatten uns als Paar gefunden, unsere Freunde waren da, jeder ging arbeiten, wir wohnten in München. Wir fühlten uns wohl. Doch die von so vielen in unserer Umgebung gewünschte Zukunft mit Haus, Kindern und einem Leben auf dem Land, war nicht unsere.“ Zumal schon im Jahr 2008 eine schöne Wohnung in München zu finden auch mit zwei Gehältern nicht so einfach war. Sie waren einfach zu klein.
„Warum nicht nach Seattle?“, so die Idee. „Da war ich schon mal, da ist es schön, könnte dir gefallen“ so der Mann. Der Urlaub war toll und der Plan gemacht. Einfach mal für ein paar Jahre woanders wohnen. Der Mann hatte dort schon einen Job.
Mit zwei Koffern und einigen Kisten, die in Deutschland blieben, ging es nach Seattle. Wohnen konnten sie bei Freunden. Wer zu dieser Zeit in Seattle war, weiß, dass sich die Stadt, wie so viele andere auch, heute zu einem schlechteren, dreckigeren und gefährlicheren Ort entwickelt hat. Vor 13 Jahren sah das noch anders aus. Auch die Innenstadt von Seattle war beeindruckend und faszinierend.
Und der erste Eindruck? Alles war größer, toller, spannender – einfach schöner. Die Menschen haben viel mehr Platz zum Wohnen. “Man findet hier immer eine Küche und Lampen in den Wohnungen in Häusern –egal ob man mietet oder kauft. Die Krankenkasse übernimmt viel mehr Vorsorgeuntersuchungen, die Lebensmittel sind deutlich teurer, aber auch deutlich besser. Die Autos sind größer und es gibt genug Platz zum Parken”.
Enthusiasmus und Neugierde rückten alles in das richtige Licht: Die Gegend mit ihren vielen Parks, Seen, die Natur, die Nähe zu den Bergen, zum Meer, das Wetter – nie zu kalt – nie zu warm. Die Menschen freundlich und offen. Persönlicher Anschluss war schnell gefunden, weil beide mit entsprechendem Spirit ankamen und manchmal der Zufall half. Und mit den Jahren sind wertvolle Freunde daraus geworden.
Unsere Auswanderin ist eine Persönlichkeit mit schnellem Verstand, einem großen Herzen und eher ein „Macher-Typ“. Und so wagte sie einen beruflichen Neuanfang bei einem Anwalt, den sie aufgrund ihrer Ausbildung in Deutschland so nie hätte machen können.
Doch Moment, nicht so schnell: Schon mal daran gedacht, ein Computerspiel zu spielen? Unsere Auswanderin nahm die Herausforderung an und wurde erstmal professionelle Spieletesterin bei Nintendo! Und nach einigen Monaten musste sie über sich selbst lachen, wie sie da so war mit vielen anderen Menschen ab 16, die den ganzen Tag über versuchten, irgendwelche Level zu erreichen. Der Arbeitstag auf die Minuten vorgegeben, getaktet, das kann man machen als Jugendlicher – „vielleicht braucht man dann auch die festen Strukturen, wo man um Erlaubnis fragen muss, wenn man den Arbeitsplatz mal kurz verlassen möchte“. Eine Erfahrung, die sie niemals missen möchte, doch die dann auch glücklicherweise wieder vorbei war.
Auch ein Vorteil von Amerika: Hier kann man sich bewähren, zeigen was man kann. Es gibt hier kein duales Ausbildungssystem wie in Deutschland (Anmerkung: Und es ist fast nicht möglich, dieses System einem Amerikaner zu erklären) und das sieht man durchaus auch an der Qualität. Doch die andere Seite ist, dass die Unternehmen nicht so festgefahren sind – es nicht sein müssen, wenn es um die Einstellung von neuen Mitarbeitenden geht. Und in diesen nächsten Jahren während ihrer Tätigkeit bei dem Anwalt lernt sie viele Lebensgeschichten von Amerikanern und damit auch die negativen Seiten kennen: Der Weg nach unten geht hier meistens sehr schnell, das soziale Netz fehlt.
Und das geht irgendwann an die Substanz und sie sucht sich einen neuen Job.
Das Leben bietet einem manchmal an, was man selbst nie gewählt hätte und doch ist es genau das Richtige. Aus den paar Jahren sind nun mehr als 10 geworden, der Besitz passt schon lange nicht mehr in zwei Koffer und die in Deutschland zurück gebliebenen Sachen werden nicht gebraucht. Ein Haus mit viel Land darum ist gefunden, Gartenarbeit ist wichtig, es ist ein Stück Wurzeln schlagen, von jemanden, der eigentlich dachte, dieses Sein ist nichts für ihn. Es ist ein großes Stück Verantwortung übernehmen, von jemanden, der dies für sich so nicht sah.
Und ich glaube, hier kommen wir an das eigentliche Geheimnis, warum diese Auswanderung und dieser Mensch so erfolgreich waren und sind: Man hat ein Bild von sich, eine Idee, eine Identität, Überzeugungen und Pläne. Und dann lässt man das Leben mal machen und sich nicht beeindrucken von vermeintlichen Zwangläufigkeiten. Und von außen sehen wir einen eher ambivalenten Menschen, doch genau das ist es, was ihn so völlig in sich ruhend und zufrieden macht. Und eben zu dem befähigt, was anliegt. Weil er nicht festhält an dem, was er bisher dachte, sondern sich begeistern kann für neue Möglichkeiten, die sich ihm bieten. Und doch im Auge behält, was ihm wichtig ist.
Fragt man nun nach Informationen über Amerika aus quasi erster Hand, dann sind es durchaus die gängigen, wie zum Beispiel, dass dort erstmal alles möglich zu sein scheint. Aber der Satz, der mir im Gespräch auffällt, beschreibt es am besten: Jedes Land hat seine Vor- und Nachteile. In jedem Land gibt es dies und das und in jedem muss man eine große Portion Glück, Verstand, Fleiß und Gesellschaft haben, um gut leben zu können. Doch manchmal ist einfach die Umgebung schöner.
Und nun? Im Moment bleibt unsere Auswanderin hier, doch wenn sie daran denkt, dass beide älter werden: „Wir kaufen uns ein Camper und schauen uns die vielen Orte an, die wir trotz allem noch nicht in Amerika gesehen haben. Und dann mal sehen. Viele unserer Freunde bleiben nicht hier, weil man sich das Wohnen in dieser Gegend im Alter nicht mehr leisten kann. Und dann werden wir uns auch langfristig umorientieren“. Ob es wieder zurück nach Deutschland geht? Oder in ein anderes Land? Es gibt verschiedene Pläne mit durchaus auch pragmatischen Überlegungen. Doch es wird sich dann zeigen.
Und ich ziehe meinen Hut vor einer Persönlichkeit, deren Fähigkeiten im Hier und Jetzt zu leben, die Herausforderungen anzunehmen, das Früher im Gestern liegen zu lassen und die Zukunft mit Neugier aber ohne Naivität zu träumen und anzugehen, mich sehr beeindrucken.
Wir sehen hier: Eine Auswanderung gelingt nicht von allein. Wichtige Grundlagen müssen gelegt sein und man muss verstehen, wie das Land, in das man geht, funktioniert. Die Zeit, die ungeschriebenen, gesellschaftlichen Gesetze zu verstehen, die Kommunikation hinter dem gesprochenen Wort zu erlernen und sich seinen Platz zu suchen, ist wichtig. Und dann braucht man noch all das, was ich hier auch versucht habe zu beschreiben.
Wir haben lange miteinander gesprochen und ich habe viel erfahren, viel gelernt. Es ist inzwischen kalt geworden hier in Seattle.
In guter Stimmung, nachdenklich, beeindruckt und in Gedanken gehe ich nach Hause.
Es ist auch für mich nicht so weit.